Disruptive Politik

Oder: Warum es in Deutschland keine großen Reformen gibt

In repräsentativen Demokratien ist politische Entscheidungsfindung ein komplexer Prozess, der auf Konsens und Kompromiss setzt. Unterschiedliche Interessengruppen – von Parteien über Lobbyverbände bis hin zur Zivilgesellschaft – müssen eingebunden werden. Jeder besteht auf dem Recht gefragt zu werden, um nicht danach mit einem „aber was ist mit uns?“ den Entschlüssen die Unterstützung zu verwehren. Dadurch entstehen oft langwierige Debatten und Kompromissentscheidungen, die große Reformen ausbremsen oder verwässern.

Ein klassisches Beispiel ist die Energiewende: Während das gesellschaftliche Bewusstsein über den Klimaschutz wächst, verhindern zähe Verhandlungen über Finanzierung, Technologieeinsatz und soziale Ausgleichsmaßnahmen schnelle Fortschritte. Ähnlich verhält es sich mit sozialen Reformen oder Infrastrukturprojekten – je mehr Beteiligte mitreden, desto größer die Gefahr, dass tiefgreifende Veränderungen ausbleiben, da jeder mitgedacht werden muss. Das beim Gebäudeenergiegesetz vielfach widerholte Strucksche Gesetz

Kein Gesetz verlässt den Bundestag, wie es herein gekommen ist

 Peter Struck

gilt damit unverändert.


Ein anderes prägnantes Beispiel für die Herausforderungen der Konsenssuche bietet auch die Europäische Union. Durch das Vetorecht einzelner Mitgliedsstaaten sind Entscheidungen häufig auf größtmögliche Kompromisse angewiesen, um die Zustimmung aller zu erhalten. Diese Notwendigkeit führt oft zu verwässerten Beschlüssen, die nicht die erforderliche Durchschlagskraft besitzen, um effektive Veränderungen herbeizuführen.

Der Lock-In-Effekt: Die Macht vergangener Entscheidungen

Ein weiteres Hindernis für „disruptive“ Politik ist der Lock-In-Effekt. Entscheidungen der Vergangenheit beeinflussen die Gegenwart oft so stark, dass neue politische Maßnahmen kaum umgesetzt werden können. Parteien sind hier besonders betroffen, da frühere Positionen ihre heutigen Handlungsspielräume einschränken.

Ein Beispiel sind die Grünen: Ursprünglich als pazifistische Partei gegründet, haben sie sich unter der Ampelregierung zu Befürwortern von Waffenlieferungen an die Ukraine entwickelt. Diese Kehrtwende ist einerseits ein Zeichen für Realpolitik, andererseits zeigt sie, wie frühere Positionen den Handlungsspielraum einschränken. Diese Entscheidung entstand aber nicht im Luftleeren Raum, ohne die Position zum Kosovo-Einsatz, welche am Kosovo-Parteitag der Grünen von der Basis beschlossen wurde. Die Abkehr vom Pazifismus wurde intern und extern stark kritisiert, weil viele Wähler genau deshalb ursprünglich ihr Kreuz bei den Grünen gemacht hatten.

Die Interpretation von Gesetzen als politisches Instrument

Gesetzgebung ist nicht nur die Schaffung neuer Regeln, sondern immer auch eine Frage der Interpretation. Rechtliche Rahmenbedingungen sind selten eindeutig und lassen Spielraum für politische Entscheidungen. Wer an der Macht ist, kann durch die Auswahl der relevanten Rechtsinterpretationen politische Weichen stellen.

Ein klassisches Beispiel ist die Diskussion um Grundrechte in Krisenzeiten wie Corona: Sind Notstandsgesetze oder Ausgangssperren mit demokratischen Prinzipien vereinbar? Hier entscheidet nicht allein das Gesetz, sondern dessen Interpretation durch Gerichte, Regierungen und Verwaltungen.

Aber auch die großen Sozialreformen unter Schröder waren davon geprägt, zu interpretieren, wann ein Sozialstaat noch ein Sozialstaat ist.

Politik und Recht: Wer folgt wem?

Der österreichische FPÖ-Politiker Herbert Kickl sagte einmal:


Politik hat nicht dem Recht zu folgen, sondern Recht der Politik.

Herbert Kickl


Dieses Zitat impliziert, dass politische Entscheidungen wichtiger sind als bestehende Gesetze und dass Politik nach Belieben das Recht verändern oder übergehen kann.

Vergleicht man das mit dem Zitat aus der NS-Zeit


Der Führerwille steht über dem Gesetz

Carl Schmitt

wird klar, wie gefährlich eine solche Denkweise ist. In einer Demokratie sind Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung essenzielle Prinzipien, die Politik an rechtliche Rahmenbedingungen binden. Sobald die Politik über dem Recht steht, öffnet dies Tür und Tor für Willkür und autokratische Strukturen.

Trump, Milei und der „disruptive“ Politikstil

Im Gegensatz zur traditionellen Politik, die sich in mühsamen Kompromissen verliert, setzen Figuren wie Donald Trump und Javier Milei auf eine „disruptive“ Strategie:

Trump umging parlamentarische Prozesse durch Exekutivverordnungen und stellte bestehende Institutionen offen in Frage.

Milei attackiert nicht nur politische Gegner, sondern das gesamte politische System und will es durch radikale Maßnahmen umkrempeln.

Beide agieren mit einer Politik des Bruchs, die bewusst auf Konfrontation setzt und sich nicht an überkommene Regeln gebunden fühlt. Ihr Politikstil basiert darauf, alte Strukturen nicht reformieren zu wollen, sondern sie zu zerstören und durch etwas radikal Neues zu ersetzen.

Doch auch, wenn diese neue Art ihre Gefahren mit sich bringt, so findet dieser Stil seine Anhänger. Nicht zuletzt wurden beide Vertreter durch demokratische Wahlen in ihr Amt gebracht. Was der kompromisslose Stil dann aber bedeutet, wurde erst nach der Wahl klar. So beschäftigen sich in beiden Ländern die Gerichte damit, ob die Anordnungen, welche im Linnemann’schen „einfach mal machen“ Stil beschlossen wurden, überhaupt in Einklang mit den Gesetzen stehen. Diese Art, ebenjene Legitimität schon a priori vorauszusetzen und die Legimitation im Nachhinein einzuholen, beschleunigt und verschlankt Prozesse. Führt aber auch zu einem Zick-Zack Kurs, wenn die Gerichte die Beschlüsse wieder einkassieren.

Fazit: Brauchen wir eine „disruptive“ Politik?

Eine wirklich disruptive Politik wäre eine, die eingefahrene Entscheidungsstrukturen aufbricht, ohne demokratische Grundsätze zu gefährden. Das bedeutet, dass Reformen schneller umgesetzt werden müssen, Blockaden durch alte Parteipositionen aufgelöst und politische Entscheidungsprozesse agiler gestaltet werden. Gleichzeitig muss das Recht als Schutzmechanismus für Bürger bestehen bleiben.

Die große Herausforderung bleibt:

Wie kann man das System reformieren, ohne es zu zerstören? Die Antwort darauf entscheidet, ob unsere Demokratie auch in Zukunft noch handlungsfähig bleibt.

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